Das Buch hat mir unheimlich gut gefallen. Ich habe ja schon einige Bücher darüber gelesen, dass unser Fokus und unsere Aufmerksamkeit abnehmen und was man dagegen tun kann. Ich hatte im Buch von Johann Hari eigentlich irgendwie „erwartet“, dass ich auch hier die immer gleiche technikfeindliche Leier höre. Tech-Konzerne wie Google und Facebook sind böse, sie manipulieren uns mit Push Benachrichtigungen und wir müssen das unterbinden, indem wir die Benachrichtigungen abstellen.
Ablenkungen
Doch der Autor geht weiter in die Tiefe und das hat mir sehr gut gefallen. Er erzählt davon, dass es Zeit braucht, um wieder tiefer in Aktivitäten einzutauchen. Er beschreibt, dass wir im Durchschnitt nach einer Unterbrechung 23 Minuten brauchen, um wieder in gleichem Maße so tief in die Aufgabe einzutauchen, wie wir es waren, bevor wir unterbrochen wurden. Das ist ein Phänomen, das ich bei mir schon seit Jahren beobachte. Ich hasse, hasse, HASSE es wenn ich unterbrochen werde. Wenn ich arbeite und mich jemand anspricht, habe ich wirklich körperliche Stresssymtome, es fühlt sich unbeschreiblich schrecklich an. So als würde man aus einem tiefen Traum mit dem Lärm einer Explosion geweckt werden. Mein Puls beschleunigt sich, mein Blutdruck steigt spürbar, alles in mir verkrampft sich und ich fühle, wie mir ein eiskalter Schauer den Rücken hinunterläuft.
Diese extreme Reaktion darauf aus einer Phase der tiefen Konzentration herausgerissen zu werden ist für mich derart traumatisch, dass ich in der Vergangenheit regelrecht panische Angst erlebt habe mich überhaupt an Aufgaben zu setzen. Ich weiß, dass ich beim Schreiben oder bei anderen Tätigkeiten in ein Flow-Erlebnis fallen kann und dann so konzentriert bin, doch die Angst dabei gestört zu werden, hielt mich lange davon ab solche Situationen und Erfahrungen zu suchen. Ich vermied es absichtlich mich wirklich auf Dinge einzulassen, einfach aus der blanken Panik, jemand könnte mich aus der Phase der tiefen Konzentration herausreißen, indem er mich störte, anrief oder an der Tür klingelte.
Wie geht es anderen damit?
Der Autor erzählte, dass ein durchschnittlicher Büroangestellter in London am Tag insgesamt 3 Stunden mit der Tätigkeit beschäftigt sei, für die er bezahlt wurde. Die restliche Zeit füllte er mit Ablenkungen. Ganz ehrlich, wenn ich in einem Büro arbeiten würde, wo mich die ganze Zeit Menschen stören und ansprechen könnten, würde ich nicht mal auf diese drei Stunden kommen.
Diesen Menschen gilt mein tiefstes Mitgefühl und das meine ich absolut zynismusfrei.
Abgrenzung zu anderen Büchern
Lange haben mich Bücher darüber, wie Facebook und Google unsere Aufmerksamkeit „hacken“ gelangweilt. Nir Eyal hat darüber geschrieben, Cal Newport, Ryan Holiday… und während ich diese Bücher las, wartete ich sehnsüchtig darauf, dass der Autor uns als nächstes erklären möge, dass wir Luft atmen können, so trivial erschienen mir diese Aussagen.
Doch Hari geht ein wenig weiter, er geht etwas mehr in die Tiefe. Auch wenn ich manche seiner Gedanken und Vorschläge etwas übertrieben finde. So bin ich zB nicht der Meinung, dass man dem Datensammeln von Unternehmen auf politischer Ebene verbieten müsse, damit sie uns nicht mit besonders auf uns zugeschnittenen Anzeigen ablenken können.
Über die Flow Forschung
Etwas, was mir sehr gut gefallen hat, ist die Detailliebe in Haris Recherchen. Mihaly Csikszentmihalyi ist wohl jedem ein Begriff, der sich mit Aufmerksamkeit und Produktivität befasst hat. Ich kann die Bücher, in denen auf die Flow-Forschung eingegangen wurde, nicht mehr zählen. Ich habe sogar Csikszentmihalyi eigenes Buch gelesen. Doch ich kann mich nicht dran erinnern, dass jemals so genau auf die biografischen Details des Autors eingegangen worden war. Ich glaube selbst in seinem eigenen Buch hat er nicht wirklich über seine Kindheit und Jugend geschrieben. Hari hingegen zeichnet hier ein umfassendes und spannendes Bild von Csikszentmihalyi Werdegang.
Grausamer Optimismus
Was mich ebenfalls sehr angesprochen hat, waren Haris Überlegungen zum „grausamen Optimismus“, gemeint ist die Tätigkeit Menschen Lösungsvorschläge zu unterbreiten, die für einen selbst leicht umzusetzen wären, aber für den Betroffenen in seiner speziellen Situation nicht. So wie Marie Antoinette fälschlicherweise der Ausspruch „wenn die armen Menschen kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen“ zugeschrieben wurde.
Das ist ein Konzept, das mich im Geiste schon länger begleitet. Ich weiß, dass ich mit meinen Privilegien in meinem Elfenbeinturm sitze und dass vieles, was ich an Strategien verwende um meinen Alltag zu meistern auf andere Menschen schlicht nicht anwendbar ist. So ist der größte Lifehack, den ich tagtäglich anwende, Schlaf zur obersten Priorität zu machen.
Wenn ich weniger als 7 Stunden geschlafen habe, dann sage ich alle Termine am nächsten Tag ab, chille stattdessen und schlafe nachmittags noch ein wenig. Doch das kann ich nur tun, weil ich verdammt priviligiert bin. Für die alleinerziehende Mutter eines kleinen Kindes, dass stündlich wach wird, ist dieser Ratschlag überhaupt nicht umsetzbar. Genau so wie es für Menschen mit einer emotionalbedingten Essstörung nicht umsetzbar ist, wenn man ihnen sagt „iss einfach weniger“.
Genau so bin ich der Meinung, dass ich im Vergleich zu meiner Altersgruppe in Industrieländern, weniger Rückenprobleme habe, weil ich penibel darauf achte mich im Alltag mehr zu bewegen und nicht so viel am Schreibtisch zu sitzen. Das kann ich wunderbar machen, weil ich priviligiert bin und meinen Alltag so gestalten kann. Doch jemand, der 8 Stunden in einem Bürojob sitzt, häufig noch Überstunden macht und jeden Tag 2 Stunden mit dem Auto zur Arbeit pendelt, wird das nie im Leben umsetzen können.
Fazit
Es macht Hari sympathisch, dass er das erkennt und weiß, dass viele Lösungsvorschläge, die er dem Leser anbietet nicht für jeden umsetzbar sind.
Trotzdem bietet das Buch viel Tiefe und gute Lösungsansätze. Es deckt sich teilweise mit dem, was Cal Newport und andere Autoren schreiben. Das ist aber auch okay. Ich finde, Johann Hari hat hier mit persönlichen Geschichten und einem soliden Hintergrundwissen ein Werk mit viel Mehrwert geschaffen. Sicher haben wir viele Passagen und Überlegungen schon bei anderen Autoren gelesen, doch das macht das Buch an anderen Stellen wieder wett.
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