Noise (Daniel Kahnemann)

„Schnelles Denken langsames Denken“ von Daniel Kahneman gehört zu einem der einflussreichsten Bücher des letzten Jahrzehnts. In seinem neuen Werk Noise widmet er sich systematischen Urteilsverzerrungen und wie diese Unternehmen, Institutionen und Individuen in ihren Entscheidungen beeinflussen.

Systematische Urteilsverzerrungen sind mir das erste Mal im Buch Factfulness begegnet. Wer Factfulness von Hans Rosling gelesen hat, erinnert sich sicher dass wir uns berechenbar und vorhersagbar irren.

Kahnemann zeigt auf, dass wir diesen Entscheidungsfehlern überall begegnen.

Das Buch ist in sechs Teile gegliedert

  • Noise entdecken
  • Unser Intellekt ist ein Messinstrument
  • Noise in prädiktiven Urteilen
  • Wie Noise entsteht
  • Wie sich die Urteilsbildung verbessern lässt
  • Optimales Noise

Die krassen Unterschiede zwischen Urteilen im Strafrecht haben mich besonders geschockt. Die Wahrscheinlichkeit dass ein Richter anders entscheidet als ein anderer ist durch die Bank überraschend hoch. Das allein sollte meiner Meinung nach jeder wissen. Rein statistisch gesehen lohnt es sich deswegen immer bei einem Urteil zu euren Ungunsten in Berufung zu gehen. Doch es geht noch weiter. Die Unterschiede im Strafmaß zwischen unterschiedlichen Richtern, die denselben Angeklagten beurteilen sollen, sind erschreckend. Wo der eine Richter fünf Jahre verhängt, verhängt ein anderer 15 Jahre. Auch wenn Unterschiede zwischen Experten:innen und Autoritäten durchaus zu erwarten und wünschenswert sind, hört bei so enormen Differenzen das Verständnis auf. Doch die Unterschiede finden sich nicht nur bei verschiedenen Richter:innen. Es konnte nachgewiesen werden, dass ein:e Richter:in die selben Fälle unterschiedlich beurteilt. Abhängig von der Uhrzeit, seiner:ihrer Laune oder ob seine:ihre Lieblingssportmannschaft am Vorabend gewonnen oder verloren hat.

Im Hinblick auf die Möglichkeiten, die uns durch intelligente Algorithmen in der Zukunft zur Verfügung stehen werden ist das Buch eine angenehme Abwechslung zu den gängigen Untergangsszenarien, die man aus anderen Bücher kennt. Es gibt hier keine dystopischen Prognosen á la „unser Leben wird nur noch von Maschinen kontrolliert, die keine Gefühle kennen“ ähnlich wie einst schon Kafka das Schreckensgespenst des kalten Apparats ohne jegliches menschliche Mitgefühl an die Wand malte. Ganz im Gegenteil: das Buch zeigt stichhaltig auf, dass Algorithmen und künstliche Intelligenz durchweg bessere Entscheidungen treffen, als Menschen. Sie machen weniger Fehler, sind in ihren Entscheidungen von weniger Vorurteilen geleitet und wenn Maschinen eine Entscheidung auf Basis eines Models treffen, mit dem sie von einem Experten gefüttert wurden, ist ihre Entscheidung genauer, als würde der Experte sein eigenes Model verwenden. Natürlich sind auch Algorithmen nicht frei von Fehlern. Es hängt vor allem stark von den Daten ab, mit denen man sie füttert. Stützt sich das Algorithmus zum Beispiel bei der Vorhersage von Straftaten auf Prädiktoren, die von strukturellem Rassismus beeinflusst werden, so fließt dieser Rassismus auch in das Model ein.

Insgesamt war „Noise: Was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern können“ ein Buch, aus dem ich sehr viel neues mitgenommen habe. Wer sich normalerweise darüber „beschwert“, dass die Bücher die er*sie liest nicht genügend in die Tiefe gehen, sollte hier zuschlagen. Das Buch geht definitiv in die Tiefe, ist aber entsprechend auch anstrengend zu lesen, weil die Informationsdichte sehr hoch ist. Es ist also kein Buch, das man mal eben zwischendurch liest. Wohl aber ein gutes Buch, wenn man sich die Zeit dafür nehmen möchte und über die Passagen nachdenkt.


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